In meiner Forschung beschäftige ich mich derzeit zu aller vorderst mit der Theorie Psychologischer Reaktanz, also damit, was die Einschränkung von Freiheit ganz mit uns als Einzelperson oder Gruppe macht. Die Corona-Pandemie* hat mir für diesen Teil meiner Fragestellung ein einzigartiges, realweltliches Experiment ermöglicht: 80 Millionen Menschen sind gleichzeitig und unwiederbringlich von Freiheitseinschränkungen auf Grundrechtsniveau betroffen – ich kann damit meine zu Grunde liegende Theorie in der „echten Welt“ und in einem realen politisch-gesellschaftlichen Setting testen. Diese Gelegenheit konnte ich mir nicht entgehen lassen! So habe ich binnen weniger Wochen einen Fragebogen erarbeitet, getestet und ins Feld geführt. 766 Menschen haben die Befragung abgeschlossen. Ich bin dankbar für die Unterstützung und möchte an dieser Stelle den Weg zum Fragebogen und das Konzept dahinter kurz umreißen. Abschließend teile ich noch meine Einschätzung, warum derzeit die öffentliche Stimmung zu kippen scheint. Ich bin gespannt, was ihr denkt!
Fangen wir mit der Ausgangsbeobachtung an: Die weltweiten Strategien zur Eindämmung und Kontrolle der Corona-Pandemie führen nach wie vor zu umfassenden, zumeist gesetzlichen, Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens. Die oben erwähnte Theorie psychologischer Reaktanz legt nun die Erwartung nahe, dass diese Einschränkungen von Freiheit durch die Regierungen und der damit verbundene Verlust der Kontrolle eigener Handlungsoptionen, zu Widerstand führt. Das Gegenteil war zunächst der Fall. Anstatt aufzubegehren, ermutigten Menschen einander, die Regelungen einzuhalten (#stayathome). Die Zufriedenheit mit für den Einschnitt der Freiheiten verantwortlichen politischen Entscheiderinnen und -Entscheider wuchs parallel und ist nach wie vor hoch. Das ist insbesondere bemerkenswert, weil die Regierung zuletzt unter massiver Kritik stand und mit einbrechenden Zustimmungswerten zu kämpfen hatten (Die Entwicklung der Beliebtheitswerte der Parteien können bei Infratest dimap anschaulich nachgelesen werden).
Wie passt das zusammen?
Im Einklang mit der Theorie der Psychologischen Reaktanz von Brehm und Brehm (1981) gehe ich davon aus, dass es in erster Reaktion zu Reaktanz auf die Einschränkungen der persönlichen Freiheit durch die Corona-Maßnahmen kommt. Ich argumentiere aber weiter, dass die Unmöglichkeit der Wiederherstellung dieser Freiheit nicht in einer Motivation zur Wiederherstellung von Freiheit mündet – weil das praktisch bis zum Umbruch der öffentlichen Stimmung nicht möglich war oder als möglich angesehen wurde. Statt dessen stellte sich ein Gefühl kognitiver Dissonanz ein, welches letztlich nur durch eine Zustimmung zu den Maßnahmen aufgelöst werden kann (Brehm & Brehm, 1981; Nisbet, Cooper & Garrett, 2015). Diese Auflösung kann sich unterschiedlich äußern. Besonders spannend ist der aktuell wachsende Zuspruch zu den Regierungsparteien sowie der Abnahme von Attraktivität der politischen Opposition. Dies ist genau entgegengesetzt zu den Erwartungen, die die Reaktanztheorie nahelegt (Sittenthaler et al., 2015; Traut-Mattusch et al., 2008; Traut-Mattusch et al, 2011). Das führt zu zwei Leitgedanken, die meinen Fragebogen geleitet haben:
- Die empfundene psychologische Reaktanz gegenüber der Einschränkung von Freiheit im Rahmen der Corona-Maßnahmen führt zu kognitiver Dissonanz und dem Bestreben, diese abzubauen.
- Je stärker das Empfinden psychologischer Reaktanz, desto stärker die erlebte kognitive Dissonanz und entsprechend desto stärker auch die Maßnahmen zum Abbau kognitiver Dissonanz.
Auf Basis dieser Leitgedanken habe ich meinen Fragebogen aufgestellt. Ohne die Hilfe meines Doktorvaters Michael Häfner und der meines Kollegen Johannes Fertmann wäre ich wahrscheinlich im Prozess an meiner eigenen Unsicherheit gescheitert – deswegen bin ich umso dankbarer dafür!
Ich habe mich in der ersten Hälfte einer bestehenden Skala bedient, die Reaktanz in spezifischen Situationen messen soll. Sie hat sich rückblickend als ein besonders schwieriges Element erwiesen, da sie doppelte Verneinungen und nach Meinung einiger Proband*innen nicht nur direkte, sondern auch mitunter tendenziöse Fragen enthält. Zusätzlich haben wir ein Instrument für die grundsätzliche Einstellung zu Reaktanz erhoben, um einschätzen zu können, ob jemand schnell oder weniger schnell kritisch auf Freiheitseinschränkungen reagiert. Zuletzt haben wir einen Fragenkatalog zur aktuellen Stimmung, der Entstehung, dem Empfinden und der Vermeidung von Dissonanz (u.a. die politische Einstellung), sowie dem Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit beigefügt. Zur Einordnung der Daten und späteren Einschätzung ihrer Güte, habe ich abschließend soziodemographische Merkmale erhoben. Der Fragebogen wurde mit 14 Menschen getestet, ging am 4. Mai 2020 live und heute früh offline.
Und nun sitze ich hier, mit einer riesigen Excel-Tabelle, erarbeite einen Analyseleitfaden und bin wahnsinnig gespannt, was raus kommt. Ich halte Euch auf dem Laufenden. Denn in den sieben Tagen Laufzeit der Studie, hat sich die Welt schon wieder bemerkenswert weitergedreht!
Wie sehe ich die aktuelle Situation?
Aktuell sinkt die Zufriedenheit mit den Maßnahmen der Bundesregierung merklich, trotzdem sind noch zwei Drittel der Bundesbürger*innen mit ihnen einverstanden (siehe z.B. Statista). Entlang meiner theoretischen Überlegungen halte ich für die Abnahme der Zustimmung drei Erklärungsstränge für besonders wahrscheinlich:
- Freiheit ist (wieder) möglich: Durch die beginnenden Lockerungen und den besonders sichtbaren Widerstand von faktisch einiger weniger Menschen, ist die Wiederherstellung von Freiheit eine wahrscheinlichere Option, da konkrete Veränderungen nach politischem Druck bereits umgesetzt wurden. Es ist also rein kognitiv nicht mehr nötig, die Einschränkungen hinzunehmen. Zuwiederhandlung wird wieder zu einer Option im Sinne der Theorie der psychologischen Reaktanz.
- Alternative Erklärungsmuster: Vor allem Verschwörungstheoretiker*innen bieten erfolgreich alternative Erklärungsmuster an, die die kognitive Dissonanz effektiver bearbeiten, da sie kein unangenehmes Verhalten wie die Einschränkung von Freiheit fordern sondern mit dem Bedürfnis nach persönlicher Freiheit konform gehen.
- Unsichtbarkeit: Wir haben uns gewöhnt. Das ist erstmal eine gute Nachricht, denn das heißt, wir haben den kollektiven Zustand von Unsicherheit und der damit verbundenen Ausnahmereaktion überwunden. Diese Gewöhnung tritt statistisch gesehen vier bis sechs Wochen nach einem traumatischen Erlebnis ein. Dazu kommt, dass das Szenario, das uns das Trauma aufgezeigt hat, ein Schreckensbild wie in Italien oder den USA war, das so nicht eingetreten ist. Wir neigen nun dazu, den Nutzen der Maßnahmen zu hinterfragen. Dahinter steht unter anderem das Präventionsparadoxon: „Eine präventive Maßnahme, die für Bevölkerung und Gemeinschaften einen hohen Nutzen bringt, bringt dem einzelnen Menschen oft nur wenig – und umgekehrt.“ Wirkung bleibt unsichtbar und da ist es kognitiv die einfachere, weil weniger aufwändige Wahl, die Maßnahmen in Frage zu stellen als zu abstrahieren, dass die Unsichtbarkeit eine Folge des konkreten Handelns ist. Ich nehme es da wie Ranga Yogeshwar: „Würden wir die Feuerwehr abschaffen, nur weil es im vergangenen Jahr nicht gebrannt hat?“
Natürlich schließen alle Erklärungen einander nicht aus. Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, dass wir es hier – wie eigentlich immer in der Welt – mit einer Gemengelage zu tun haben. Ich hoffe, ich kann Euch im nächsten Posting aus dem Bereich „Forschung“ mehr daraus erzählen.
*in einem weiteren Post werde ich Euch auch noch verraten, was die Corona-Pandemie mit meiner Arbeit macht. Ab sofort möchte ich Euch einmal die Woche mit einem Posting bedenken. Für heute bleiben wir aber erstmal bei der Forschung 😉
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