Ich hatte Euch zuletzt versprochen, einen Einblick in mein aktuelles Leben als Promovierende zu geben und wie es sich seit dem Anfangen verändert hat. Dass das schon wieder zwei Wochen her ist, ist sprichwörtlich für das Wesen dieses Lebens: An zwei Orten, mit zwei Ehrenämtern (für eines davon, der Internetseite angstfrei.news, ist dieser Beitrag ursprünglich entstanden und wurde am 20. Mai dort veröffentlicht.) und der Grundsätzlichen Frage nach dem Platz im Leben, kann die einfachste Aufgabe mal schnell hinten über fallen, wenn einen das Leben, die Promotion, die Beziehung oder der eigene Gesundheitszustand dazwischen kommt. Aber immer wieder entstehen Momente der Ordnung, an denen ich festhalte und verschnaufe, um mich in die nächste Frage zu stürzen. Der folgende Text nimmt Euch also mit in meinen Geist auf der Suche nach Ordnung und der Frage, welche Rolle ‚die anderen‘ dabei (nicht) spielen (sollten). Findet sich der*die eine vielleicht darin wieder?
Ich arbeite derzeit mit Hochdruck an der Datenauswertung meiner ersten Studie und hatte letzte Woche ein Aha-Erlebnis. Es ging darum, wie ich eine Wechselvariable zu einem ganz bestimmten Fall des politischen Wahlverhaltens berechne. Nachdem ich eine Stunde brütete und probierte, fielen plötzlich alle Teile an ihren Platz. Das war ein wahnsinnig gutes Gefühl, weil ich vorher so viele Gedanken und Möglichkeiten gleichzeitig jongliert hatte, dass ich besorgt war, sie würden mir aus den Händen und dem Geist gleiten. Kaum hatte ich mich zu Ende gefreut, fiel mir das nächste Fragezeichen in den Blick, das es zu lösen galt. Aber im Lichte des zurückliegenden Erfolgs erschien mir das als absolut machbar – also fing ich wieder an zu jonglieren. Her mit den Problemen!
Forschung vs. ‚wirkliches Leben‘
Im ‚wirklichen Leben‘ fallen die Teile gerade weniger leicht an ihren Platz. Schon vor Corona habe ich einige große Veränderungen vorgenommen, die gehörig für Chaos in der Puzzleschachtel gesorgt haben (nachlesen). Das ging so weit, dass ich mir zeitweise nicht mehr sicher war, ob alle Teile in meiner Schachtel auch tatsächlich zum selben – und tatsächlich zu meinem – Puzzle gehören. Die letzte Energie, die aus dem Moment Sortiertseins entspringt und die es braucht, um auch das nächste Chaos zu ordnen, war also eigentlich bereits zu Beginn der globalen Pandemie aufgebraucht. Corona kam trotzdem.
Zunächst dachte ich mir „Prima! Nun sind die anderen auch in diesem diffusen Chaos-Gefühl angekommen.“ Das war ungemein entspannend, weil ich mich in der Dissonanz zwischen dem Wunsch zu Sortieren und dem ständigen Scheitern an dessen Umsetzung nicht mehr alleine fühlte. Viele von uns wissen, dass dieses sich-nicht-alleine-fühlen oft sehr heilsam ist.
Wir lernen durch sortieren…
Mit der Zeit setzte sich der menschliche Drang zu Sortieren doch durch. Das ist nicht verwunderlich: Wir werden, wer wir sind, durch das Sortieren. Seit unserer Geburt sortieren wir auf unterschiedlichsten Ebenen gleichzeitig: Freund und Feind, Schmerz und Geborgenheit, Schmeckt mir oder Schmeckt mir nicht. So bauen wir uns Stück für Stück unser großes Ganzes. Neurowissenschaftler nennen das unser analytisches Denkvermögen. Es hilft uns, immer neue Informationen und Problemlösungen zu verknüpfen. Jede Erfahrung ist die Grundlage für die nächste. Wie beim Puzzle: Mit jedem Teil, das passt, sieht das Bild anders aus. Nur, dass es im Leben nicht auf ein vorgezeichnetes Bild herausläuft, das wir nachpuzzeln können.
… aber wir sollten das Richtige sortieren
Und vielleicht liegt da mein eigentliches Problem – in meiner Suche nach Ordnung. Ich glaube, es gibt eine Ordnung, die bereits da ist, ich muss sie nur finden, wie Michelangelo die Statue in seinem Marmor*. Oder bedenklicher noch: ich muss nur dem Bild auf der Box folgen, in die ich mein Leben sortiert habe. Manchmal bin ich mir nichtmal sicher, ob das meine eigene Box ist, oder ob ich mir das Bild auf der Box von jemandem vorstelle, den*die ich besser, toller oder erfolgreicher finde als mich selbst.
Womit wir wieder bei Corona sind. Nach zehn Wochen Pandemie hat sich ein Alltag eingeschlichen, aber von dem großen Aha-Erlebnis bin ich (von meiner Datenanalyse mal abgesehen) noch weit entfernt. Und dann schaue ich mich um und stelle fest: Andere bekommen das hin! Sie haben das Chaos überwunden. Und ich krame noch immer nach der richtigen Schachtel.
Was ich von mir selber lernen könnte
Dabei könnte es so einfach sein, wenn ich zwei Ratschläge beherzige, die ich mir selber geben kann:
- Perspektivwechsel statt ein Blick auf andere.
Der Blick auf „andere“ hat noch nie geholfen. Wie Eckart von Hirschhausen so schön sagt: Wir wissen ja garnicht, was hinter deren Stirn abläuft, wir sehen nur das Außen, was wir sehen sollen und dürfen. Uns selber hören wir in unseren Gedanken und Abgründen zu. Kein Wunder, dass wir uns kritischer sehen. Was hilft, ist uns von außen zu sehen und uns dann mal in den Arm zu nehmen für all das Engagement, was wir aufbringen, für die Arbeit die wir machen und die Beziehungen, die wir pflegen und für uns selbst, die wir einfach mal eine Umarmung gebraucht haben. - Wer sich eine Schachtel sucht, verstaubt im Regal.
Anders als beim Puzzle oder in der Statistik gibt es wohl keine Schachtel und kein Vorbild, nachdem wir unsere Teile ordnen sollten und vor allem kein ‚richtiges‘ Ergebnis. Die Teile unseres Lebens fallen natürlich zusammen, wenn wir sie lassen. Atmen hilft dabei. Auch ein kühler Kopf ist erlaubt: Alles mal aufschreiben und Nützliches von weniger Hilfreichem unterscheiden. Nur nachpuzzeln sollten wir vermeiden. Das kann nicht passen, denn anderer Leute Bilder können wir nur mit anderer Leute Puzzelteile puzzeln und wir sind mit unseren eigenen Teilen beschenkt.
Seid ihr nicht neugierig, welches Bild dabei herauskommt?
*Michelangelo soll mal gesagt haben, die Statue sei schon im Marmor, bevor er mit seiner Arbeit beginnt. Er würde sie lediglich befreien.
Ist unser wirklich nur ein Puzzle? Dann wären ja alle Teile schon vorbestimmt durch ein großes Gesamtbild. Das hätte dann JEMAND zerschnitten und der Sinn unseres Daseins besteht aus lebenspuzzeln. Das erscheint mir zu wenig. Mir gefiele der Vergleich mit einem Mosaik. Ein Gesamtbild aus durchaus unvollkommenen Einelstücken. Jedes Teil ist individuell, klein, groß, breit, dick, eben wie jeder Moment im Leben: Einzigartig, unvollkommen aber wertvoll im Gesamtleben.
Ein total schöner Gedanke. Ich dachte erst „darum geht es mir ja auch!“ (so schreibe ich davon, dass es „keine Schachtel und kein Vorbild [gibt], nachdem wir unsere Teile ordnen sollten und vor allem kein ‚richtiges‘ Ergebnis“) – aber Du hast absolut Recht, der Gedanke, dass wir mit Puzzleteilen beschenkt sind sagt, dass „jemand“ oder „etwas“ die Teile eines fertigen zusammengestellt hat und wir sie dann ordnen. Zwar frei und flexibel, aber eben irgendwie vorgegeben durch Teile eines Ganzen.
Ich weiß noch nicht genau, ob ich finde, dass das Sicherheit gibt oder einengt. Und: um ein Mosaik zu legen, hat man ja auch irgendwie einen Sortierauftrag, oder nicht?