Nach einem ausführlichen Überblick über die seelische Lage der Nation zu Coronazeiten möchten wir heute einen Schwerpunkt auf die seelische Gesundheit bereits – akut oder chronisch – psychisch erkrankter Menschen legen. (Warum) sorgt die Pandemie für erhöhte Erkrankungszahlen? Welche Störungen sind besonders betroffen? Was hat die Pandemie gerade mit ihrer speziellen Situation gemacht? Wie können Betroffene dieser besonderen Situation entgehen? Gleichzeitig wissen wir, dass 30 Prozent der Gesamtbevölkerung keine nennenswerten Einschnitte in die eigene seelische Gesundheit berichtet. Welche Tipps zur Steigerung unseres Wohlbefindens können wir davon ableiten und ab welchem Punkt ist professionelle Hilfe sinnvoll? Einen Überblick über all diese Fragen versuchen wir in diesem Schwarzbrot zu geben. (Text vom Frühjahr 2021)
Grundsätzlich gilt: Quellen, aus denen seelische Erkrankungen entspringen sind zumeist normale, oft hilfreiche menschliche Reaktionen auf die Realität. Wir haben Angst vor Gefahr, damit wir uns davor schützen können, wir reagieren mit Belastungssymptomen auf Situationen, die uns zu viel sind oder abverlangen, wenn uns etwas passiert, das uns seelisch mitgenommen haben, signalisieren uns Traumareaktionen, dass wir uns damit auseinandersetzen müssen. In der aktuellen Lage werden diese oft eigentlich normalen Mechanismen (seit einem Jahr fast schon chronisch) aktiviert: Die Gefahrenlage verändert sich ständig. Immer wieder ergibt sich daraus ein Stimulus für unsere Angstmechanismen. Das Thema ruht nicht oder nur selten, daher ist auch unsere Psyche permanent in Hab-Acht-Stellung. Gleiches gilt für die außergewöhnlichen Belastungen, mit denen viele von uns zu tun haben: Medizinisches Personal jeden Tag im Pflegealltag, Eltern im Homeschooling, Arbeitnehmer:innen im Homeoffice-Wahnsinn, Selbstständige zwischen Fragezeichen und Improvisationstalent, Künstler:innen durch die tägliche Existenzfrage.
„Multidimensionaler toxischer Stressor bei gleichzeitigem Verlust von Schutzfaktoren“
Die Wissenschaft nennt die aktuelle Krise einen multidimensionalen toxischen Stressor bei gleichzeitigem Verlust von Schutzfaktoren. Menschen fühlen sich hilf- und machtlos. Konkret heißt das, aus der Krise entsteht eine Last für jede und jeden Menschen, die sich individuell äußert und von Person zu Person unterschiedlich starke Einschränkungen nach sich zieht – bis hin zu einer (neuen) behandlungsbedürfigen seelischen Erkrankung. Bis Mitte Mai 2020 zählten Wissenschaftler:innen relativ hohe Raten von Angstsymptomen in der Allgemeinbevölkerung (6 bis 51%), Depressionen (15 % bis 48 %), posttraumatischen Belastungsstörungen (7 % bis 54 %), psychischem Stress (34 % bis 38 %) oder Stress (8 % bis 82 %) (Xiong et al., 2020). Bezogen auf den Teil der (chinesischen) Gesellschaft, der unter Quarantäne gestellt war, zeigte eine Studie, dass davon etwa 48% der Menschen Symptome einer Depression und 23% klinisch relevante Ängste zeigten.
Wenn die Krise für einen gesunden Menschen schon solche erheblichen Auswirkungen haben kann, wie ist es dann für bereits Erkrankte?
Diese Frage ist die Grundlage für angstfrei.news gewesen. In der Zwischenzeit hat die Realität dazu belastbare Antworten zu bieten. Zunächst der Blick auf das Vorher: Vor der Corona-Pandemie litt mehr als jede:r vierte Deutsche im Zeitraum eines Jahres unter mindestens einer psychischen Erkrankung (das sagt die so genannte „1-jahres-Prävalenz“ aus, diese lag 2014 bei 28% –> BRAKEMEIER). Studien belegen, dass gerade diese Menschen, die Anfälligkeiten für oder bestehende psychische Störungen haben, besonders unter der aktuellen Situation leiden.
Angst
Der Unterschied zwischen ähnlich belastenden Stressen gesellschaftlicher Größenordnung wie zum Beispiel Naturkatastrophen wird die Last der COVID-19-Pandemie viel subjektiver in der Bedrohung wahrgenommen. Das messen Wissenschaftler:innen indem sie die Nähe/Distanz zur Bedrohung abfragen. Gesamtgesellschaftlich variierte dieser Wert über die Länge der Pandemie und führte dann zu einer Angst- oder Anpassungsstörung, wenn die Ängste das Ausmaß der tatsächlichen Bedrohung deutlich überstiegen sowie zu Leidensdruck und (z.T. erheblichen) Einschränkungen führte – zum Beispiel dazu, dass die Anpassung an die Pandemie-Lebensumstände nicht gelang.
Bereits angsterkrankte Menschen haben oft ohnehin ein kompliziertes Verhältnis zur Einschätzung von Gefahrenlage. Die aktuelle Pandemie ist dafür ein negativer Verstärker. Begrabene generalisierte Angstdynamiken werden vermehrt wieder in das Bewusstsein gehoben, da sie nun einen – scheinbar berechtigten – Platz in der tatsächlichen Realität bekommen.
Depressionen
Laut einer Studie der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) aus dem Jahr 2017 sind Depressionen mit weltweit etwa 322 Millionen Betroffenen eine der häufigsten psychischen Störungen und eine der zentralen Gesundheitsherausvorderungen des 21. Jahrhunderts. Die aktuelle Pandemie birgt zahlreiche Risikofaktoren für Depressionen – vor allem für bereits Betroffene Personen. Dazu zählt das empfundene Ohnmachtserleben, aber auch andere eine Depression verstärkende Faktoren wie Einsamkeit, Rollenkonflikte, Trauer, Verlust der Tagesstruktur, Einschränkungen angenehmer Aktivitäten und/oder Sport oder auch sozioökonomische Faktoren wie Arbeitslosigkeit oder berufliche Unsicherheit.
Damit verwundert es nicht, dass laut einer Studie aus der Schweiz („Swiss Corona Stress Study“), 57% der Teilnehmer:innen von einem Anstieg ihrer depressiven Symptome berichteten. Eine andere Studie (CorDis) bestätigt diese Zahl. Dazu kommt, dass die Wahrscheinlichkeit für eine mittelschwere oder schwere Depression von 3,4% (vor der Pandemie) auf 9,1% (während des ersten Lockdowns) stieg. Das bedeutet, dass die aktuelle Lage zu einer nachhaltigen Verschlechterung der Krankheitssituation führen kann.
Wie beeinflusst eine COVID-19 Infektion die seelische Gesundheit?
Neben den alltäglichen Risikofaktoren, die mit der Pandemie einhergehen und der Rolle seelischer Vorerkrankungen, kann auch eine Infektion mit COVID-19 ein Auslöser für seelische Erkrankungen sein. Dahinter steckt das „Post-COVID-Syndrom“, zu dem unter anderem auch anhaltende bleierne Müdigkeit, die Abnahme geistiger Konzentrationsleistung oder andere neuropsychologische Symptome gehören.
Düstere Zukunft für die Seelen der Nation?
Weil es mitunter lange dauert, bis sich psychische Störungen zeigen, kann darüber – zumindest auf wissenschaftlicher Basis – noch keine sichere Aussage getroffen werden. Trotzdem zeigt sich auf Basis der bisherigen Erfahrungen und Zahlen, dass in Zukunft mit einem nachweisbaren Anstieg der Prävalenzen und Inszidenzen psychischer Störungen – einfach gesagt der Wahrscheinlichkeit ihres Auftretens bezogen auf die Lebenszeit oder die Gesamtbevölkerung – zu rechnen ist. Insbesondere, so die Forschenden, wird dies Depressionen, Anpassungsstörungen, Angsterkrankungen und Traumafolgestörungen betreffen.
Die Seele im Trainingslager
Das diese Bild, das wir gezeichnet haben, zeigt nur einen Teil der Seele der Nation. Laut der COSMO Studie aus Erfurt berichten 20-30 Prozent der Bevölkerung (je nach Zeitpunkt der Erhebung) von geringen oder überhaupt keinen negativen psychischen Auswirkungen der Pandemie. Im Rahmen einer Studie aus dem Hochsommer 2020 (Juli/August) berichtete nur ein knappes Drittel der Befragten, garkeine guten Erfahrungen aus der Zeit der Corona-Pandemie mitgenommen zu haben. Fast die Hälfte dem gegenüber hatten nach eigenen Angaben viel Positives erlebt. Dazu zählen die Entschleunigung des Alltags (47%) oder auch die Konzentration auf das Wichtige im Leben (31%). Damit bestärken Studien die Annahme, dass die Pandemie mittel- bis langfristig auch nachhaltig positive Einflüsse auf die individuellen Lebenssituationen haben wird.
Menschen wollen sich helfen lassen
Insbesondere in einem stigmatisierten Feld wie seelische Erkrankungen ist es eine gute Nachricht, dass Menschen Unterstützungsangebote für den erhalt der psychischen Gesundheit kennen und nutzen. Laut des COSMO-Monitors der Universität Erfurt (Welle vom 23.2.21) haben 23% der Befragten schon einmal gezielt nach Informationen und Tipps für den erhalt ihrer seelischen Gesundheit gesucht. 17% haben darüber nachgedacht, sich ärztlichen oder therapeutischen Rat zu holen und in der Konsequenz auch professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Corona-Resilienz lernen – einige Tipps
Es hilft, die beschriebenen Risikofaktoren und Problembereiche zu kennen. Gleichzeitig ist es nachweislich nützlich, *Resilienz zu üben. Wissenschaftler:innen haben dazu ein paar einfache Tipps:
- Nachrichten. Wissenschaftler:innen raten zu einem achtsamen Medienkonsum, denn obwohl gute Information wichtig ist, können zu viele Corona-Nachrichten panisch machen. Konkret bedeutet das: ein oder zweimal täglich nachrichten schauen und dazwischen eine Pause machen.
- Achtsamkeit üben. Achtsamkeit heißt, Dinge im Moment zu erleben und Gefühle wie Stress, Angst oder auch negativen Gedanken aktiv wahrzunehmen. Nur dann können wir ihnen adäquat – d.h. gesünder – begegnen.
- Aushalten. Wir können nichts an der Unsicherheit der Situation ändern. Daher ist es eine große Leistung, wenn wir diese akzeptieren und aushalten. Natürlich ist das von individueller Lebenssituation zu individueller Lebenssituation unterschiedlich leicht, trotzdem ist es für uns alle eine Lehrstunde der radikalen Akzeptanz, die sich lohnt.
- Selbstfürsorge. Es hilft, zu wissen, was uns gut tut. Oft ist das eine klare Tagesstruktur, das Pflegen von Kontakten trotz und im Rahmen der Abstandsregeln und sich selbst liebevoll zu umsorgen, sei es mit Essen, Sport oder einem Frühen Feierabend.
- Akute Belastungen erkennen und konsequent Hilfe in Anspruch nehmen.
Konkrete Hilfsangebote:
- Telefonberatung der BZgA (kostenlos) → 08002322783
- Telefonseelsorge (anonym, kostenlos) → 08001110111 oder 08001110222.
- Nummer gegen Kummer
- für Kinder und Jugendliche: 116111 (Montag-Samstag von 14-20 Uhr)
- für Eltern: 08001110550 (Montag-Freitag von 9-11 Uhr, Dienstag + Donnerstag von 17-19 Uhr)
- Bei einer ernsthaften/akuten Krise → Hausärzte/Hausärztinnen, Fachärztinnen/Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychotherapeutinnen/Psychotherapeuten. → Die Arztsuche der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bietet die Möglichkeit, entsprechende Ärzte und Psychotherapeuten auch gezielt nach deren Fremdsprachkenntnissen zu suchen: https://www.kbv.de/html/arztsuche.php.
Abschließend möchten wir nochmal ganz deutlich machen: Diese Krise ist eine Belastungssituation sondergleichen, die sich zudem noch unterhalb vieler Oberflächen stattfindet. Jede und jeder wird und darf darauf ganz unterschiedlich reagieren. Es gibt kein richtig und falsch, berechtigt oder unberechtigt, zu viel oder zu wenig. Denn jede und jeder von uns ist sein und ihr ganz eigenes System mit ganz eigenen Erlebnissen und Erfahrungen und vor allem mit einer ganz individuellen Seele. Wir können einander viel Gutes tun, wenn wir verstehen, dass wir einander in unseren fehlenden und vorhandenen Stützpfeilern ergänzen können und wenn wir einander grundsätzlich mit einer zugewandten und offenen Haltung begegnen. Dann ist schonmal ein wichtiger Faktor seelischer Gesundheit gestärkt: das positive Umfeld, das es braucht, seelische Gesundheit zu erhalten, zu stärken oder wiederherzustellen.
Mit diesem Überblick über seelische Erkrankungen in der Krise möchten wir dieses Schwarzbrot schließen. Im nächsten und letzen Teil dieser kurzen Reihe geht es abschließend um die seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.
Quellen
→ Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege
→ Neurologen und Psychiater im Netz
→ Aktionsbündnis seelische Gesundheit
→ Positionspapier (Zeitschrift für klinische Psychologie)→ DGPPN (Übersicht für Hilfsangebote)