Margot Friedländer: Von der Fähigkeit, Gleichzeitigkeit auszuhalten

Margot Friedländers Tod macht mich traurig. Gleichzeitig klingt ihr klares Motto nach, das sie so beeindruckend authentisch lebte: „Seid doch einfach Menschen!“ Ich durfte Margot mehrfach in der Fliedner Klinik Berlin treffen, und jedes Mal lag ein stiller Auftrag in der Luft: Mach etwas Gutes aus deiner Zeit. Margot war authentisch, nahbar, warmherzig, ohne jegliche Arroganz, trotz ihrer Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin, die sie 2021 erhielt (https://margot-friedlaender-stiftung.de), oder der Rolle als Vertreterin der Opfer, der Verantwortung und des Mahnens.

Margot zu Gast in der Fliedner Klinik Berlin im Jahr 2018. (Credits K. Hajek)

1921 geboren, wächst Anni Margot Bendheim über einem Knopfgeschäft in Kreuzberg auf. Die Welt riecht nach Stoffballen, nicht nach Stacheldraht. Doch 1943 zerreißt ihr Leben: Mutter, Vater, Bruder Ralph – alle werden deportiert nach Auschwitz und werden dort ermordet. Margot taucht unter, näht sich eine falsche Identität wie ein zu enges Kleid an den eigenen Leib. Verraten 1944, landet sie in Theresienstadt – „nur“ Theresienstadt, sagt sie Jahrzehnte später der Bildzeitung (https://bit.ly/BildInterview). Wer diesen Ort als Glück empfindet, der hat Unvorstellbares erlebt.

Mit der Befreiung 1945 beginnt für Margot ein neues Leben: Exil in New York, Ehe, jahrzehntelanges Schweigen, und schließlich der entschlossene Rückweg nach Berlin im Jahr 2010. Mit 88 Jahren kehrt sie zurück, schreibt Bücher, spricht in Schulen. „Ihr habt mich nicht besiegt“, ist ihre Botschaft an die Täter von damals – und an jede Form von Hass heute. Von diesem Hass, den sie erlebt hat, nicht besiegt zu werden, ist eine ihrer beeindruckendsten Leistungen und eine Mahnung, die ich ganz persönlich annehme.

Margot starb in einer Woche, die symbolisch aufgeladen ist: 80 Jahre Kriegsende, 20 Jahre Holocaust-Mahnmal und 40 Jahre nach der berühmten Weizsäcker-Rede am 8. Mai 1985. Diese Woche zwingt Deutschland wieder einmal, sich mit dem Spagat zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Schuld und Verantwortung auseinanderzusetzen.

Am 8. Mai erinnerte der Deutschlandfunk an Richard von Weizsäckers historische Rede vor 40 Jahren (https://bit.ly/weizsaeckerDLF). Weizsäcker wagte damals einen schwierigen Balanceakt zwischen Trauer und Erleichterung, zwischen Befreiung und Zusammenbruch, zwischen Schuld und deutschem Leid. Und er sprach unbequeme Wahrheiten klar aus: „Schonung unserer Gefühle hilft nicht weiter. Wir brauchen die Kraft, der Wahrheit ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit.“ (https://bit.ly/RedeWeizsaecker). In seiner Rede schaffte er es, Raum zu machen für (zuvor marginalisierte) Opfergruppen (z.B. Sinti und Roma oder auch deutsche Widerstandskämpfer), wendete sich eindrucksvoll gegen das Argument des Nichtwissens („Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten.“), und erreichte auch jene, die als Kriegsverliererinnen und Verlierer mit Identitätssuche, Trauer und Schuld kämpften. 

Er macht klar: Es geht nicht darum, einander in Watte zu packen oder nach dem Mund zu reden. Es geht um eine Ehrlichkeit, dass es manchmal echt schwer ist und hart und anstrengend, sich mit der Wirklichkeit auseinander zu setzen und dass die richtige Lösung nicht immer das beste Gefühl nach sich zieht. 

Frank-Walter Steinmeier versuchte 40 Jahre später am 8. Mai 2025 einen ähnlichen Spagat: Deutlich machte er, dass nicht abstrakte „Nationalsozialisten“, sondern Deutsche die Täter:innen waren. Erinnerung sei kein Ballast, sondern ein „kostbarer Erfahrungsschatz“. Doch Kommentator:innen warfen ihm vor, den Spagat weniger gut vermittelt zu haben, zu akademisch gewesen zu sein, zu einseitig in seinen Schlussfolgerungen (https://bit.ly/weizsaeckerDLF) – obwohl sie eigentlich integrativ war: schützt die Demokratie!

Dabei war sie auch ganz klar darin, dass wir nicht alle Menschen lieben können – wohl jedoch sie respektieren! – denn wir sind vom gleichen Blut, sagte Margot immer wieder. „Es gibt kein christliches, kein jüdisches, kein muslimisches Blut – nur menschliches“, sagte sie ausgerechnet der Bildzeitung (https://bit.ly/BildInterview). Nicht akademisch abgehoben, sondern aus tiefer menschlicher Nähe heraus in einem Interview unter dem Titel „Meine Mutter wurde in Auschwitz gleich in die Gaskammer geschickt“.  Eine Aussage so klar, wie erschütternd – Margots Sprache in einer sprichwörtlichen Nussschale. 

Margot erinnerte sich als wäre es gestern gewesen an das Grauen, das sie erlebt hat; an den pragmatischen Wunsch ihrer Mutter, als diese nachts hinaus eilte, um Margots jüngeren Bruder, Ralph, beizustehen, der von den Nazis abgeholt und zur Deportation eingesperrt worden war. „Versuch dein Leben zu machen“, sagte ihre Mutter. Ich stell mir vor, diese Margot fest aber schnell  in den Arm nahm, und davon eilte. Wenn es das, ist was deine Mutter dir mitgibt, bevor sie mit deinem Bruder zusammen in den Tod eilt, was fühlst du? In ihrem Buch beschreibt Margot – fast schon pragmatisch – wie sie sich versteckt und später als Schneiderin Theresienstadt überlebt, wie sie erfährt, dass sie alle verloren hat und dann nach Amerika geht und für Jahre ‚ihr Leben macht‘, bevor sie zurück kommt, um zu erinnern.

Holocaust-Mahnmal in Berlin Mitte ((c) wal_172619 Pixabay (noncommercial license))

Warum die lange Stille? Neben dem Rat ihrer Mutter glaube ich, dass sie ein Leben gebraucht hat, um für das, was sie erlebt hat, Worte zu finden. Margot findet sie schließlich in klaren Berichten. Dort vermittelt sie ihre Realität und ein Gefühl, in dem Erschütterung, Respekt und Gegenwartssorge gemeinsam lebt. 

Dieses Gefühlsdilemma aus deutscher Perspektive in ein Mahnmal für die Opfer des Holocaust zu gießen, hat den Bundestag über Jahre beschäftigt: Wohin mit der Schande? Wie kommunizieren? Welche Erinnerugnskultur wollen wir? Nach siebzehn Jahren Planung, Streit und Bau wurde das Mahnmal im Herzen Berlins vor zwanzig Jahren eröffnet. 19.000 Quadratmeter voller Stehlen, unterkellert mit einem Ort der Information. Diesen hinzu zu planen war die einzige Korrekturbitte an den amerikanischen Architekten Peter Eisenmann, der die Ausschreibung um dieses Kontroverse Projekt knapp gewann. 

Seit 20 Jahren steht sein Werk nun im Herzen Berlins und polarisiert noch immer (https://bit.ly/mahnmalDLF). Besucher:innen finden es hässlich oder bedrückend, erwarten Zahlen oder Schönheit, sind enttäuscht über die absichtliche Abstraktheit. Doch ich glaube, gerade das Hässliche, Kantige, Unbequeme ist wichtig. Das Mahnmal von Peter Eisenman vermittelt Gefühle – Enge, Beklemmung, Irritation. Es zwingt uns, Ambivalenzen auszuhalten, eigene Empfindungen zuzulassen, und gerade nicht einfache Antworten vorzugeben. Und selbst wenn es einfach nur durch seine aus dem Rahmen fallende Präsenz eine ständige Erinnerung ist, dann erfüllt es auch (s)einen Zweck. 

Wie das Mahnmal schaffte Margot beides: ein Gefühl für das heraufzubeschwören was war und den Raum, damit umzugehen. Wie das Denkmal hat sie einen unvergleichbaren Raum dafür geschaffen, Unterschiedlichkeiten auszuhalten.

Am Ende führt genau diese Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten und miteinander darüber ins Gespräch zu kommen, in die Mitte meiner eigenen Forschungsarbeit: Wir müssen lernen, in der Demokratie konstruktiv zu streiten, ohne uns ideologisch voneinander abzuschotten (hier oder hier dazu weiterlesen). Da gehe ich mit meiner Forschung jetzt Schritt für Schritt hin. Was lernen wir aus dem Verständnis des emotionalen Prozesses von Widerstand für Gesprächsführung, die den Austausch, nicht das Überzeugen in die Mitte stellt? Welche Rolle spielt die Toleranz, Unterschiedlichkeit auszuhalten? Wie können wir über Gesprächsführung einen Beitrag zur Demokratie leisten? Wie können wir das üben?

Besonders spannend finde ich hier auch das DFG-Projekt von Alexander Wuttke, Politikwissenschaftler am Geschwister-Scholl-Institut an der LMU. Unter dem Titel „How to Make the Case for Democracy“ forscht er zu Strategien, um demokratische Haltung durch Kommunikation zu stärken – evidenzbasiert, offen für die Gleichzeitigkeit widersprüchlicher demokratischer Bedürfnisse (Webseite).

Quellenangaben:

English version (Translated with Chat GPT with the prompt to be ‚true to my words‘ in German)

Margot Friedländer: On the Ability to Embrace Dissonances 

by khajekin Research, Freedom, and Society, published on May 10, 2025

Margot Friedländer’s passing makes me sad. Yet her clear motto resonates powerfully, which she embodied authentically: “Just be human!” I had the privilege of meeting Margot several times at the Fliedner Clinic Berlin, and each time there was a quiet instruction hanging in the air: Do something good with your time. Margot was authentic, approachable, warm-hearted, free of any arrogance, despite receiving an honorary doctorate from Freie Universität Berlin in 2021 (https://margot-friedlaender-stiftung.de), and her role as a voice for victims, responsibility, and remembrance.

Who voluntarily returns at the age of 88 to the city where she experienced the worst atrocities, precisely to preach humanity there? Margot did exactly that. Berlin was her great love—despite everything, perhaps precisely because of everything. She firmly believed that remembering is more healing than forgetting.

Born in 1921, Anni Margot Bendheim grew up above a button shop in Kreuzberg, in a world smelling of fabric rolls rather than barbed wire. But in 1943, her life was torn apart: mother, father, brother Ralph—all were deported to Auschwitz and murdered there. Margot went into hiding, crafting a false identity like a too-tight garment. Betrayed in 1944, she ended up in Theresienstadt—“only“ Theresienstadt, as she told Bild newspaper decades later (https://bit.ly/BildInterview). To see this place as a stroke of luck speaks volumes about the unimaginable horrors she endured.

Margot passed away during a symbolically charged week: 80 years since the end of World War II, the 20th anniversary of the Holocaust Memorial, and 40 years since Weizsäcker’s renowned speech on May 8, 1985. This week again compelled Germany to grapple with the delicate balance between past and present, guilt and responsibility.

May 8: Communicating Ambiguities – from Weizsäcker to Steinmeier

On May 8, Deutschlandfunk recalled Richard von Weizsäcker’s historic speech 40 years ago (https://bit.ly/weizsaeckerDLF). Weizsäcker then navigated a difficult balancing act between sorrow and relief, liberation and collapse, guilt and German suffering. He articulated uncomfortable truths clearly: „Sparing our feelings doesn’t help. We need the strength to face the truth, without embellishment or one-sidedness.“ (https://bit.ly/RedeWeizsaecker). He gave visibility to previously marginalized victims (such as Sinti and Roma or German resistance fighters), strongly countered claims of ignorance (“Anyone who opened their eyes and ears, anyone who wanted to know, couldn’t miss the deportation trains rolling.”), and reached those struggling with identity, grief, and guilt after the war.

He emphasized honesty: it’s not about sugar-coating or flattering each other, but acknowledging that facing reality can be genuinely hard, exhausting, and uncomfortable—and the right path doesn’t always bring immediate comfort.

Forty years later, on May 8, 2025, Frank-Walter Steinmeier attempted a similar balancing act, highlighting that it wasn’t abstract „National Socialists“ but Germans who were perpetrators. Memory, he said, is not a burden but a „precious treasure.“ However, commentators criticized him for not conveying this balance as effectively, suggesting he leaned too academic or one-sided (https://bit.ly/weizsaeckerDLF)—although his message was integrative: protect democracy!

She insisted that while we cannot love everyone, we must respect them. “There is no Christian, Jewish, or Muslim blood—only human blood,” she notably told Bild (https://bit.ly/BildInterview). This was Margot: clear and deeply human, in language accessible and profoundly moving.

20 Years Holocaust Memorial: Ambiguity Cast in Concrete

Margot vividly recalled the horrors, particularly her mother’s pragmatic parting words as she rushed out to support Margot’s younger brother, Ralph, who was seized for deportation: “Try to make your life.” Imagine the emotions tied to such a farewell. In her book, Margot pragmatically describes hiding, surviving as a seamstress in Theresienstadt, learning of her family’s fate, moving to America, and eventually returning to remind us of her story.

This dilemma of how to memorialize the Holocaust occupied the Bundestag for years, culminating in the opening of the Holocaust Memorial in central Berlin 20 years ago after intense debates. Covering 19,000 square meters, designed by Peter Eisenman, it remains polarizing today (https://bit.ly/mahnmalDLF). Visitors find it unsettling, abstract, uncomfortable. Precisely this discomfort forces us to confront ambiguity, making space for personal emotional responses rather than easy answers.

Margot and the Memorial differ in their accessibility but align closely in their power to evoke emotion and reality. Like the Memorial, Margot made space for ambiguity and feeling, creating a lasting framework to handle diversity.

Today’s Task: Debate, Democracy, and Ambiguity

Ultimately, embracing ambiguity and discussing it openly is central to my own research: learning constructive democratic debate without ideological separation (more here). Inspired also by Alexander Wuttke’s DFG project, „How to Make the Case for Democracy,“ we must foster democratic attitudes through evidence-based communication open to the complexities of democracy (website).

Margot Friedländer remains a personal inspiration: clearly positioning oneself, communicating and embracing ambiguity, prioritizing humanity over ideology, and maintaining dialogue even when difficult.