[IV] Verschwörungen für die Seele

Nach dem kleinen ABC der Verschwörungserzählungen, einen Blick auf die Rolle der Medien und einer Einordnung, warum wir alle empfänglich dafür sind, soll es nun um den Wert dieser Mythen für unsere Psyche gehen. Was wissen wir aus Psychologie und Sozialwissenschaft über die Mechanismen hinter dem Glauben an Verschwörungserzählungen? Und was macht es für unsere Seele so attraktiv, ihnen zu folgen?

Letztlich befriedigt der Glaube an Verschwörungen Bedürfnisse, die wir alle in unterschiedlicher Art und Ausprägung haben. Einfach gesagt: (1) Wir fühlen uns gerne sicher, wissen daher gerne Bescheid, (2) möchten uns in einer Gruppe wohl und manchmal auch überlegen fühlen und (3) brauchen eine Welt, die irgendwie Sinn macht. Das dient dem Selbstwert, der Selbstwirksamkeit und befriedigt unser inneres Herdentier. Aber der Reihe nach.

(1) Kontrolle und Reduktion von Ängsten

Das Streben nach Sicherheit ist eines der grundlegenden menschlichen Bedürfnisse (siehe z.B. Maslow). Eine Strategie, die wir seit Menschengedenken dafür einsetzen, ist Kontrolle. Wir kennen das alle in unterschiedlichen Ausprägungen: Es tut gut, einen festen Ablaufplan zu haben, auf den wir uns in unserer täglichen Routine verlassen können. Wir wissen gerne, was uns erwartet, wenn wir etwas Neues beginnen. Wir bereiten uns auf alle Eventualitäten vor, wenn wir ein wichtiges Gespräch haben. Natürlich kann dieses Streben auch Überhand gewinnen. Das zeigt sich dann zum Beispiel in Zwängen oder verändertem Essverhalten. Auch dieses Verhalten ist – in seiner Schädlichkeit – ein Versuch des:der Einzelnen, Kontrolle zurück(zu) gewinnen, oft nach traumatisierenden Erlebnissen.

Nun ist aber nicht jede:r, der:die an Verschwörungserzählungen glaubt, traumatisiert. Trotzdem gibt es Studien die belegen, dass das Gefühl verlorener Kontrolle den Glauben an Verschwörungserzählungen verstärkt. Die bekannteste Studie kommt aus dem Jahr 2008. Die US-amerikanischen Psychologen Jennifer A. Whitson und Adam D. Galinsky haben in der angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift „Science“ ihren Aufsatz „Lacking Control Increases Illusory Pattern Perception“ veröffentlicht (2008, Band 322, S. 115–117) und damit eine ganze Reihe an Folgeforschungen angeregt, die den Zusammenhang weiter bestärken.

„Das Virus ist der Prototyp des kollektiven Kontrollverlustes.“ (Pia Lamberty)

In der aktuellen Krise ist die Frage scheinbar einfach beantwortet: wir haben es mit einer komplizierten Ausgangslage zu tun. Corona – die Krankheit, die Pandemie, die Schutzmaßnahmen, die Veränderungen der Gesellschaft – ist ein im Wortsinn un-fassbar komplexes Feld. Und als Gruppe machen wir es uns oft nicht gerade leichter, weiß Pia Lamberty, Mitautorin des Buches „Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.“. Denn wir tauschen uns häufiger über Großereignisse aus, als über schwierige persönliche Erfahrungen. Bei Großereignissen können wir uns sicher sein, dass auch das Gegenüber davon betroffen ist. Das schafft Nähe. Gemeinsam treffen wir uns in unserer Unsicherheit, die sich aus der Komplexität dieser Ereignisse nährt, und suchen nach einer möglichst einfachen Erklärung. Das macht es für alle leichter – kontrollierbarer. Lamberty sagt: „Es lindert das Ohnmachtsgefühl von ‚Hier passiert gerade etwas, worauf ich keinen Einfluss nehmen kann’. Corona ist ein besonders gutes Beispiel dafür“.

Warum nun dieses Kontrollbedürfnis? Naja, es ist kompliziert.

Aber wie hängt das jetzt mit Verschwörungserzählungen zusammen? Das zeigt sich an zwei einfachen Prozessen:

  1. Wir möchten die Kontrolle zurück gewinnen. Wir wissen aus einer Studie, dass Versuchspersonen, denen gezielt ein Gefühl von Kontrollverlust verursacht wurde, eher zu Verschwörungsmythen neigten, als weniger verunsicherte Proband:innen. Die Erzählungen, so die Forschenden, dienten diesen Menschen als Strategie gegen Unsicherheit, Angst und Machtlosigkeit.
  2. Und da drin steckt schon der zweite Mechanismus: Unsicherheiten kompensieren. Katharina Nocun, die zweite Autorin des oben genannten Buches über Fake Facts, erklärt, dass Verschwörungserzählungen Unsichtbares greifbar machen können. Oft berufen sich diese Theorien auf vermeintliches Geheimwissen und nur jene, die dieses Geheimnis durchschaut haben, sehen, was wirklich passiert. Alle anderen sind blind für die Wahrheit. Als Effekt entsteht eine Art Machtempfinden durch ein gesteigertes Selbstwertgefühl, das die Unsicherheit aushebeln soll. Das Paradoxe dabei, so Sabine Riede im Interview mit Netzpolitik.org: „Wir merken, dass Leute anfälliger sind, die selber ängstlich sind“, sagt Sabine Riede. Das medial oft wahrnehmbare Selbstbewusstsein der Anhänger:innen von Verschwörungsmythen ist somit nicht Voraussetzung, sondern eher Ergebnis von Verschwörungsglauben.

“Ich glaub dir kein Wort!”

Ein weiterer Katalysator des gefühlten Kontrollverlustes, der zu Verschwörungsglauben führen kann, ist Misstrauen. Insbesondere gegenüber Entscheidenden ist dies ein zentraler Punkt. Denn es ist schwer, Verantwortung abzugeben, wenn wir den Eindruck haben, diese sei dort nicht gut aufgehoben. In einer globalen Pandemie, mit einer sich ständig weiterentwickelnden Wissenslage, gehören sich ändernde Meinungen von Entscheidenden zum Tagesgeschäft (man denke an die Debatte zum Maskentragen). Auch Fehlentscheidungen sind nicht unwahrscheinlich. Beides kann Verunsicherung bis hin zu Misstrauen auslösen und damit Verschwörungserzählungen begünstigen.

(2) Unser inneres Herdentier füttern – Soziale Bedürfnisse

Der zweite große Erklärungsblock ist unsere Prägung als „Herdentiere“. Der Zusammenschluss von Menschen zu Familien, Gemeinschaften oder Dörfern ist eine der Quellen größten zivilisatorischen und evolutionären Fortschrittes. Das ist tief in unserem kulturellen Gedächtnis eingeschrieben und hat uns von klein auf geprägt (Sozialisation). Auch hier lassen sich einige Gründe für den „Nutzen“ von Verschwörungserzählungen ableiten:

[II] Wir sehnen uns danach, dazuzugehören.

Wie oben beschrieben, sehen sich Verschwörungsgläubige oft als Teil einer exklusiven Wissenselite – einer kleinen Gruppe, die die große Weltmaskerade durchschaut. Das schafft eine klare Grenze nach außen und damit ein intensives Wir-Gefühl. In der digitalisierten und individualisierten Gegenwart einer sich rasant verändernden Welt kann das Nähe schaffen, die viele als verloren empfinden (Zygmund Baumann – Moderne // Richard Sennett der Flexible Mensch). Dazu kommt: Befinden wir uns einmal in einer Gruppe mit einer solchen sozialen Identität, setzen wir alles daran, diese aufrecht zu erhalten. Das schafft man durch ein klares Feindbild, das gepflegt wird (z.B. „die Eliten“, oder „die links-grün-versifften…“). Wie schnell das geht, zeigt sich auch auf der anderen Seite. Denn auch dort gibt es feste Feindbilder über „die Impfgegner:innen“ oder „die Coronaleugner:innen“, die gepflegt werden und nur schwer aufzubrechen sind.

So fern und doch so nah

So zerstörerisch wie diese Dynamiken anmuten, so sehr sind sie für Zugehörige auch ein Quell der Nähe. Menschlich bauen wir Beziehungen zu Meinungsführer:innen oder Gleichgesinnten auf, aber auch digital entsteht Nähe: Denn vieles, was wir über die Medien aufnehmen, findet direkt in unserer Hand statt – auf unserem Handy. Wir lesen es im Bett, auf dem Klo, in unserem kleinen privaten Raum in der U-Bahn, der inmitten aller Welt nur uns gehört. Das hat einen Effekt auf das, was wir dort wahrnehmen.

“Wenn ich es Dir doch sage!”

Und auch Menschen, die uns ohnehin schon nahe waren, tragen dazu bei, dass Verschwörungserzählungen uns überzeugen und stützen können. Wir vertrauen den Menschen, die uns nahe sind – und nicht nur denen: Die Landeszentrale für politische Bildung in Baden-Württemberg erinnert an das berühmte Milgram-Experiment, das plakativ zeigt, wie mächtig Gruppenzwang sein kann: Der US-Psychologe Stanley Milgram führte 1961 ein Experiment durch, in dem eine Person 60 Sekunden lang in den Himmel starrte, obwohl sich dort nichts und niemand befand. Erst machten nur wenige Passanten mit, aber je mehr stehen blieben, desto mehr Menschen kamen dazu und richteten ihren Blick gen Himmel. Mit diesem und vielen Folgeexperimenten konnte er zeigen, dass wir als wahr akzeptieren, was viele Menschen glauben. So ist es viel effektiver, wenn eine gute Freundin uns davon erzählt, dass sie mit Trotz auf ein Verbot ihrer Eltern reagiert hat, als wenn ich Euch jetzt sage, dahinter steckt (unter anderem) der Mechanismus der Reaktanz – ein motivationaler Effekt auf die Einschränkung von Freiheit.

[II] “Ich weiß was!”

Der zweite soziale Mechanismus der greift, ist oben in der Beschreibung der Kompensation von Unsicherheiten schon angeklungen: Wir sind gerne einzigartig und wissen etwas, das andere nicht wissen. Es herrscht ein sensibles Gleichgewicht zwischen unserem Bedürfnis dazuzugehören („need to belong„) und unserem Bedürfnis, etwas Besonderes zu sein („need to be unique“), das uns in der Welt einen Platz gibt. In einer Welt voller Einzigartiger herauszustechen ist dabei oft gar nicht so einfach – es helfen neue Informationen, die wir vor allen anderen teilen. Denn wenn wir etwas wissen, das andere (noch) nicht wissen, dann markieren wir uns als „Insider“ und bekommen einen Status zugesprochen. 

Auf den sozialen – zeitlich fließenden – Medien haben wir für diesen Vorsprung oft nicht viel Zeit, da gehe es nicht darum, lange über eine Information nachzudenken, weiß Prof. Katharina Kleinen-von Königslöw, die an der Universität Hamburg zu Falschinformationen und Meinungsblasen forscht. Hand auf’s Herz: wer hat sich besonders beeilt, einen Screenshot vom neuen US-Präsidenten zu teilen, die neuesten Erkenntnisse zur Lieblingsband oder schlicht das brandheißeste Geheimnis des Freundeskreises? Es ist schon schön, der:die Erste zu sein, oder? 

Erste:r!

Wir streben nach einer positiven Selbstwahrnehmung. Und wenn wir sie nicht (nur) in uns selbst finden, dann ist das Außen eine wichtige Quelle dafür. Wir betrachten unser Handeln und bewerten dann, ob wir mit uns zufrieden sind und so einzigartig, wie wir es uns wünschen (das ist bei jede:r anders stark ausgeprägt). Sozialpsychologin Pia Lamberty erklärt in einem Interview mit der Hertie Stiftung, dass Verschwörungsglaube dieses Bedürfnis befriedigen kann. Sie sagt, dass Menschen, die besonders selbstbewusst und lautstark ihre Thesen präsentieren, wahrscheinlich weniger über den Kontrollverlust, als über das Bedürfnis nach Einzigartigkeit motiviert wurden.

(3) Das Streben nach Verstehen

Der dritte und letzte innere Motivator für den Glauben an Verschwörungsmythen liegt in unseren epidemischen Bedürfnissen begraben. Epi—Wie bitte? Dahinter steht das Bedürfnis, zu verstehen, Muster und Strukturen zu erkennen und Sinn aus scheinbar unsortierten Informationen zu stricken. Bei Menschen, die an Verschwörungsmythen glauben, ist dieses Bedürfnis besonders ausgeprägt. Eine Studie der Psychologen Jan Willem van Prooijen, Karen M. Douglas und Clara De Inocencio aus dem Jahr 2017 zeigt das ganz besonders anschaulich: Versuchsteilnehmer:innen wurden abstrakte Gemälde gezeigt. Jene, die an Verschwörungen glaubten, sahen eher Muster, Strukturen oder verborgene Absichten – selbst, wenn diese nicht da waren – als jene die nicht daran glaubten.

Willkommen in der Matrix

Dahinter kann auch eine andere Verzerrung unserer Gedanken stecken: Wir schreiben einschneidenden Dingen, die in der Welt passieren – wie eine globale Pandemie – tendenziell bedeutsame Ursachen zu. So kann unser Gehirn die kognitive Dissonanz zwischen dem was passiert ist und dem, wie wir uns die Welt wünschen, besser verarbeiten.

Forscher:innen zeigten das auch in einem Experiment: Versuchsteilnehmer:innen neigten dort eher dazu, den Tod eines fiktiven Staatsoberhauptes durch einen politischen Anschlag zu erklären, wenn in Folge des Todes ein Krieg ausgebrochen war. Eine Vergleichsgruppe, bei der der Tod keine dramatischen Folgen hatte, glaubte hingegen eher an eine natürliche Todesursache. Letztlich ist es genau das, was nach dem Tod von Elvis Presley passiert ist – Fans wollten es nicht wahrhaben und vermuteten einen größeren Grund, bis hin zum Anzweifeln des Todes selbst.

Das war eine ganze Menge Gedankenfutter! Ich freue mich über Rückmeldungen und Ergänzungen. Im nächsten Teil der Serie wird es dann um wichtige Katalysatoren und Strategien zur Reflexion von Verschwörungsmythen gehen.

Weitere Quellen
→ Quarks (Übersicht) | Quarks (Warum Verschwörung?)
→ ZDF (Interview mit Katharina Nocun und Prof. Dr. Monika Taddicken)
→ Netzpolitik.org (Übersicht)
→ Mitte Studie (Friedrich Ebert Stiftung)
→ taz (Hygiene Demos)
→ BR (Verschwörungsglaube)
→ dlf Kultur (Interview mit Katharina Nocun)
→ Landeszentrale für politische Bildung
→ Hertie Stiftung (Interview mit Pia Lamberty)
→ Gesundheitsstadt Berlin (WHO – Impfgegner)

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